Magische Marken
Es ist der 28. Oktober 2012. Ich renne durch Frankfurt. 40 Kilometer sind schon geschafft und das Ziel ist nicht mehr weit. Die Uhr zeigt 2:50 Stunden. Wenn ich nicht langsamer werde, reicht es zum Finish in knapp unter drei Stunden – eine Marke, die viele ambitionierte Hobbyläufer unterbieten möchten.
Es ist der dritte Marathon in meinem Leben. Zuvor war ich im Jahr 2005 in Berlin 3:41 Stunden gelaufen (mit allen Anfängerfehlern und damals noch als Raucher). 2011 hatte ich mich in Würzburg auf 3:20 Stunden verbessert. Und nun der nächste große Sprung?
Runde Zahlen unterbieten
Die 2:59 ist zum Greifen nah. Ich gebe nochmal alles. Und es klappt. Mit einer nur um eine Sekunde (!) langsameren zweiten Rennhälfte komme ich in 2:59:12 ins Ziel.
Was ich damals noch nicht wusste: Durch den Fokus auf mein Ziel trug ich zum statistisch messbaren Referenzpunkt-Effekt bei. Denn die Mehrheit der Läufer betrachtet ihre Leistung in Bezug auf runde Zahlen, also zum Beispiel einen Marathon unter vier Stunden zu laufen.
In einer Studie wurde das anhand eines Datensatzes von rund 9,5 Millionen Marathonzielzeiten untersucht. [1] Dabei zeigt sich eine unregelmäßige Verteilung der Zielzeiten mit einer Häufung vor den runden Zahlen. Zum Beispiel kamen in der letzten Minute unter der 3-Stunden-Marke etwa 50 Prozent mehr Läufer ins Ziel als in der Minute darauf. Ein ähnliches Muster zeigt sich auch für alle anderen relevanten 60- und 30-Minuten-Marken.
Doppelter Magnet
Die Autoren zeigen, dass der Effekt vor allem psychologisch bedingt ist und sich nicht durch Tempomacher oder andere Anreize erklären lässt. Entscheidend sind ein bewusst gewähltes Tempo auf den ersten 40 Kilometern sowie adäquates Pacing auf den finalen 2,195 Kilometern.
Gegen Rennende gibt es dabei einen interessanten Effekt. Einerseits geben diejenigen Läufer Gas, bei denen das Unterbieten der runden Marke sehr knapp ist. Und andererseits werden Läufer, die komfortabel zum Beispiel fünf Minuten vor ihrer runden Zielzeit liegen, gegen Ende deutlich langsamer – wahrscheinlich, um sich unnötige Quälereien zu ersparen und ihre Aussicht auf eine (fast) sichere Zielzeit unter der runden Marke nicht durch Überpacen zu gefährden. Beide Effekte führen dazu, dass Zeiten wie 2:59, 3:29 oder 3:59 Stunden wie Magneten wirken und sowohl etwas schnellere als auch etwas langsamere Läufer anziehen.
Weitere Effekte
Doch was ist mit Läufern, die im Rennverlauf erkennen (müssen), dass sie ihren Referenzpunkt – zum Beispiel 3:59 Stunden – nicht mehr erreichen können? Hier kommt die spontane Zielbildung ins Spiel: Viele fokussieren sich anschließend auf einen neuen, langsameren Referenzpunkt, etwa 4:29 Stunden.
Ähnliche Muster an runden Marken gibt es den Autoren zufolge auch für kürzere Renndistanzen wie 10 Meilen und Halbmarathon. Auch ich habe später noch die runde Marke von 1.20 Stunden im Halbmarathon unterboten. Allerdings ist das Muster hier weniger stark ausgeprägt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass kürzere Rennen häufiger gelaufen werden und deshalb statt runder Zahlen oft die eigenen Bestleistungen oder vorherige Zeiten auf der jeweiligen Strecke als Bezugspunkte verwendet werden.
Und es gibt noch einen interessanten Effekt: Die Forscher finden Hinweise darauf, dass Läufer, die ihr Ziel knapp verfehlen und zum Beispiel in 4:01 Stunden finishen, mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit an der nächstjährigen Version desselben Marathons teilnehmen als Läufer, die wie geplant 3:59 Stunden erreichen. Das weist darauf hin, dass viele Läufer ihre Ziele durchaus hartnäckig verfolgen.
Fazit
Das Unterbieten runder Stundenzahlen spielt für Marathonläufer nachweislich eine Rolle.
Quellen:
[1] Allen, E. J. / Dechow, P. M. / Pope, D. G. / Wu, G. (2014), Reference-Dependent Preferences: Evidence from Marathon Runners