Der längste Tag meines Lebens

28. August 2019

Vor knapp 4 Wochen habe ich mich entschieden, dieses Jahr zum ersten Mal einen 24-Stunden-Lauf zu versuchen. Es klingt schon irgendwie verrückt, einen ganzen Tag und eine ganze Nacht durchzurennen. Aber vielleicht finde ich die Idee gerade deshalb reizvoll. Es ist eine ganz neue Dimension und man muss sich garantiert weit aus seiner Komfortzone herausbewegen.

Kurz vor der Anmeldung absolviere ich meinen bisher längsten Lauf über 105 km in rund 10:30 Stunden. Das fühlt sich schon ziemlich hart an, aber ich bin optimistisch, auch die 24 Stunden schaffen zu können. Einfach (noch) langsamer laufen. Außerdem geht im Wettkampf bekanntlich immer noch einiges mehr als im Training.

Nur eine Woche später, bei meinem letzten langen Vorbereitungslauf von Dresden nach Lichtenau, passiert mir ein ungeschickter Sturz auf beide Knie, der tiefe Schürfwunden hinterlässt – und das nur zwei Wochen vor dem Rennen. Ich muss eine 10-tägige Zwangspause einlegen und verliere einige wichtige Laufeinheiten. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm, rede ich mir ein, schließlich bin ich nun zu 100% getapert. Und außerdem war es sowieso keine langfristige, gezielte Vorbereitung, da ich das Jahr über eher auf Trails unterwegs war.

Es gibt also nichts zu verlieren. Keiner der Experten (außer mein Kumpel und Titelverteidiger Marcel Leuze) hat mich im Vorfeld überhaupt auf der Rechnung. Also gehe ich als absoluter Underdog ins Rennen. Optimal.

 

Der längste Tag

Ich weiß schon, dass alle Tage gleich lang sind. Subjektiv betrachtet sieht die Sache aber etwas anders aus. Allein die 8 Stunden Schlaf in jeder normalen Nacht gehen ratz fatz vorbei, während es sich deutlich länger anfühlt, die gleiche Zeit laufend zu verbringen. Wie viel länger, habe ich jedoch massiv unterschätzt. Aber fangen wir von vorne an.

Am Vortag des Rennens nehme ich den Zug nach Bottrop, lese dort entspannt ein Buch im Park und mache es mir abends im Gemeindehaus auf meiner neuen Isomatte „gemütlich“. Trotz recht hartem Boden schlafe ich ganz gut und stehe pünktlich zum Start um 11 Uhr gut gelaunt an der Strecke.

 

24 Stunden Lauf Deutsche Meisterschaft 2019 Runde Bottrop Batenbrock Park
So sieht eine Runde im Batenbrock Park in Bottrop aus, die entgegen der Uhrzeigerichtung gelaufen wird und genau 1,257 km lang ist. Eigentlich ganz einfach oder? Quelle: LG Ultralauf

 

Die Idee mit dem langsamen Rennbeginn ist allerdings schnell vergessen. Ich laufe auf den ersten 40 Kilometern einen Schnitt von 5:20 min/km und damit nur knapp hinter den schnellsten Jungs. Wir spulen Runde um Runde ab und das Laufen macht Spaß. Zwar fühle ich mich wirklich gut dabei, da das Tempo unter normalen Umständen keineswegs „schnell“ wäre, doch dieses Gefühl wird leider nicht von Dauer sein…

Die Temperaturen steigen immer höher, aber damit komme ich durch regelmäßiges Kühlen gut zurecht. In meinen früheren Triathlon-Rennen konnte ich das ausgiebig üben. Zudem war ich erst vor kurzem auf Sizilien, wo es bedeutend heißer war – vielleicht ist das ein kleiner Vorteil heute.

Ab etwa 50 Kilometern spüre ich eine zunehmende Anstrengung und entscheide mich, Tempo rauszunehmen. Wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig. Schon wenig später rutscht mein Schnitt auf 6 min/km ab und es dauert nicht lange, bis ich nur noch 6:30 min/km laufe. Trotz des deutlich langsameren Tempos fühlt es sich nicht leichter an, sondern schwerer.

 

24 Stunden Lauf Deutsche Meisterschaft 2019 Bottrop Hitze
Bis zum späten Nachmittag ist es sehr heiß. Foto: Michael Irrgang

 

Nach 9:18 Stunden erreiche ich auf Platz 3 liegend die 100-Kilometer-Marke. Und die Uhr zeigt unerbittlich an, dass noch mehr als 14,5 Stunden zu laufen sind. Puh. Gerade mal etwas mehr als ein Drittel der Zeit überstanden und schon ziemliche Schwächeanzeichen – das kann ja heiter werden.

Es wird dunkel, die Nacht bricht an. Wenigstens sind jetzt die Temperaturen angenehm und ich muss mir nicht mehr jede Runde kaltes Wasser über den Kopf schütten. Ein bisschen Optimismus kommt auf. Die Strecke wird immer leerer, da einige Teilnehmer Schlafpausen einlegen. Andere möchten zwar vorankommen, aber können nur noch gehen.

Das verleitet mich auch, zu pausieren oder zu gehen, was ich aber nicht zulasse. Allerdings genehmige ich mir in der Nacht alle 20 Kilometer eine kleine Belohnung: Für rund 30 Sekunden längs auf eine Parkbank legen. Ahhh, was für eine Erleichterung in diesem Moment! Doch selbst nach so kurzer Pause sind die Muskeln beim Aufstehen schon so hart, dass man kaum wieder loskommt. Also auf keinen Fall länger liegen bleiben und dabei womöglich noch aus Versehen einschlafen…

Runde für Runde renne ich durch die Nacht. Es ist eine zunehmend einsame Nacht, die scheinbar nie endet. Nach vorn zu den Plätzen 1 und 2 besteht keine Chance, das machen Marcel und Felix unter sich aus. Nach hinten habe ich 5 Runden Luft, sodass es jetzt darum geht, den 3. Platz zu halten. Doch auch das muss erstmal durchgehalten werden – denn es geht mir immer schlechter.

Irgendwann kurz nach 3 Uhr nachts erreiche ich die 100-Meilen-Marke (161 km). Auf dieses nächste Zwischenziel hatte ich mich in den letzten Stunden fokussiert und genehmige mir zur Belohnung eine kurze Sitzpause sowie ein paar Schlucke Schokomilch – aber bloß nicht zu viel!

Es ist ohnehin eine Gratwanderung, einerseits die ganze Zeit zu essen und zu trinken, aber andererseits nicht zu viel aufzunehmen, da dann Magen- oder Verdauungsprobleme drohen. Ein unterstützendes Betreuerteam habe ich leider nicht. Ich sehe einige Starter, die im Dixi-Klo verschwinden oder sich am Streckenrand übergeben – darauf möchte ich verzichten. Zwar rumort es in meinem Magen auch hin und wieder, aber es bleibt zum Glück alles im Rahmen.

Als am Morgen endlich die Sonne aufgeht, ist mein Schnitt auf 7 min/km gefallen und nimmt danach zum Teil sogar noch weiter ab. Absolutes Schneckentempo und unter normalen Bedingungen fast unlaufbar langsam. Aber es geht einfach nichts mehr, die Muskulatur im ganzen Körper ist am Ende. Die Schmerzen werden dafür immer stärker und nähern sich einem unerträglichen Niveau.

Mein Körper schreit mich mit aller Gewalt an, endlich mit dieser Selbstzerstörung aufzuhören – denn genau das ist es, was wir hier machen. Es ist wirklich so verrückt, wie es sich anhört. Und es ist das erste Mal, dass ich mir eingestehe, dass ich diesmal vielleicht wirklich zu weit gegangen bin und eine Leistung von meinem Körper verlange, die er einfach nicht erbringen kann.

Gegen 07:30 Uhr erreiche ich die magische Marke von 200 Kilometern. Noch 3,5 Stunden. Ich weiß, dass ich jetzt laufen muss, bis ich umfalle. Denn nach wie vor verteidige ich den 3. Platz und darf dieses Wahnsinnsergebnis auf keinen Fall herschenken. Gleichzeitig muss ich so konstant wie möglich laufen, um nicht zu riskieren, wegen eines Kreislaufzusammenbruchs auszuscheiden.

Und das ist gar nicht so weit hergeholt. Jedes Mal, wenn ich an der Verpflegungsstelle kurz zum Greifen eines Bechers anhalte, komme ich ordentlich ins Wanken. Reiß dich jetzt zusammen, sage ich mir, und bloß keine blöden Fehler machen. Lieber noch etwas langsamer laufen, aber dafür ohne Sturz!

Die Zeit scheint unerbittlich. Sie vergeht einfach nicht. Kaum zu glauben, dass sie auch jetzt in Wirklichkeit genauso schnell vergeht wie an jedem beliebigen anderen Tag (an dem man sich wünscht, sie sollte doch lieber etwas langsamer verstreichen). Und je stärker die Schmerzen werden, desto weniger kann ich mich davon ablenken.

Doch egal wie langsam, zumindest vergeht sie irgendwann, die Zeit. Es ist 9 Uhr und die Temperaturen steigen wieder ordentlich an. Noch zwei Stunden. Ich rechne mir verzweifelt vor, dass es die letzten 10% des Rennens sind und ich mich jetzt nur noch irgendwie ins Ziel retten muss. Also wieder die Mentaltaktiken rauskramen, die mir schon in der Nacht geholfen hatten.

Ich stelle mir vor, wie ich nachher um 11 Uhr im Moment des Anhaltens (und sofortigen Hinlegens) das wahrscheinlich beste Gefühl meines Lebens haben werde. Wie ich mich monatelang ärgern würde, jetzt das Handtuch zu werfen. Und wie ich am Jahresende zurückblicke und alles dafür geben würde, noch einmal in diesen Moment zurückzukehren und bis zum Ende durchzubeißen.

Ich denke an meinen Opa, der wahrscheinlich nur noch wenige Tage oder Wochen zu leben hat, und nehme mir vor, in Erinnerung an ihn bis zum Ende durchzuhalten. Vor etwa 25 Jahren hatte er mich bei einem „Rennen“ auf dem Hof meiner Eltern noch ziemlich alt aussehen lassen.

Dann denke ich an frühere Erfolge. Wie ich mich für den Sieg beim Hofheim-Triathlon mit abgelöster Hornhaut an der Fußunterseite durchgequält oder nach dem Hitzschlag beim Ironman Hawaii ins Ziel geschleppt habe. Und wie all diese Schmerzen, die in den damaligen Momenten unerträglich schienen, irgendwann vergingen, aber die Erfolge für immer geblieben sind.

Nur noch irgendwie diese verdammten 2 Stunden durchhalten. Dann werde ich mich bei späteren Wettkämpfen daran erinnern können, wie ich auch diese Quälerei gemeistert habe. Ein paar Zeilen aus bekannten Songs schwirren durch meinen Kopf, die mich immer wieder etwas motivieren.

Man hat bei einem 24-Stunden-Lauf so viel Zeit mit sich selbst und seinen Gedanken, dass es extrem wichtig ist, sich über emotionale Momente aus dem eigenen Leben positiv zu motivieren. Willenskraft allein ist hier zwecklos. Nichts wirkt stärker als Emotionen, im Guten wie im Schlechten. Wer sich hier also in negative Gedanken verirrt, hat kaum eine Chance, die Strapazen auszuhalten, wenn es wirklich ans Limit geht. Man knickt immer zuerst mental ein.

 

24 Stunden Lauf Deutsche Meisterschaft 2019 Bottrop
„Morgens um zehn in Deutschland“, oder besser: „Lieber Gott, bitte lass es endlich aufhören“. Auch solche Zombie-Bilder gehören dazu. Fix und fertig nach rund 23 Stunden Laufen am Sonntagmorgen, mit Cola bekleckert und voller Staub von oben bis unten, mit unkontrollierter Lauftechnik und mental in einer ganz anderen Welt… Foto: Michael Sommer

 

Die letzte Stunde bricht an. Plötzlich läuft Heike, mit der ich am Vortag kurz gesprochen hatte, neben mir. Sie möchte mich die letzte Stunde begleiten – vielen Dank! Wir rechnen gemeinsam aus, dass ich die 225-Kilometer-Marke noch schaffen kann, um die Norm für den Perspektivkader der Nationalmannschaft zu erfüllen.

Ich bekomme jetzt erstmals das Gefühl, dass ich es sicher schaffen werde. Die Strapazen sind deshalb nicht geringer, ganz im Gegenteil, aber ich kann es etwas besser ausblenden. Kaum zu glauben, dass jede dieser Runden nur etwa 1,25 Kilometer lang sein soll, denn sie dauern ewig. Aber immerhin bleiben wir im Laufschritt, und das ist alles, was jetzt noch zählt.

Und dann ist es tatsächlich so weit, mein längster Tag geht zu Ende! Um 10:59 Uhr laufe ich zum letzten Mal über die Zeitmessmatte und lege mich an der dahinter befindlichen Verpflegungsstelle im Schatten auf die erstbeste Bank. Die letzte Minute des Rennens lasse ich so verstreichen.

Jubel und Klatschen für die Teilnehmer von überall. Doch ich bin mental ganz allein und isoliert mit meinem schmerzenden Körper.

 

Marko Gränitz 24 Stunden Lauf Deutsche Meisterschaft 2019 Bottrop
Aus und vorbei, es ist endlich aus und vorbei! Nur von den Schmerzen bin ich noch lange nicht erlöst. Foto: Michael Sommer

 

Erst viele Stunden später, als ich abends endlich zu Hause im Bett liege und die Schmerzen zumindest ein kleines bisschen nachgelassen haben, kann ich mich wirklich darüber freuen, dass es vorbei ist. Es ist vorbei und ich habe es durchgezogen.

Dieser Tag war so lang, die Zeitanzeige so ernüchternd, dass ich glaubte, es würde niemals aufhören. 226 Kilometer waren es, genau so weit wie die Ironman-Distanz im Triathlon. 226 Kilometer, die ich niemals vergessen werde. Denn ganz ehrlich, es war nicht nur der längste, sondern auch der brutalste Tag meines Lebens.

Noch viele Tage lang werde ich mit Schmerzen zu kämpfen haben. Doch sie werden jeden Tag ein bisschen weniger. Und je besser ich mich fühle, desto stärker kommt mir (wieder mal) genau jene Erkenntnis, die ich mir während des Rennens vor Augen hielt: Der Schmerz vergeht, aber die Erfolge bleiben. Und dieses Ergebnis war für mich persönlich ein Riesenerfolg!

Nicht unerwähnt möchte ich die verdienten Sieger des Rennens lassen. Gesamtsieger und Deutscher Meister wurde der überragend laufende Felix Weber mit neuem Streckenrekord (247 km) vor dem Deutschen Meister der beiden Vorjahre, Marcel Leuze (239 km). Bei den Frauen siegte Antje Krause (218 km) überlegen vor Simone Durry (192 km) und Ilka Friedrich (175 km). Alle Ergebnisse hier.

 

Siegerehrung Männer 24 Stunden Lauf Deutsche Meisterschaft 2019 Bottrop
Für mich ist der 3. Platz hinter den erfahrenen und auch international beachteten Profis Felix Weber und Marcel Leuze ein Mega-Erfolg! Foto: Walter Zimmermann

 

Weitere ausgewählte Artikel zum Rennen

Leichtathletik.de: Favoritensiege bei der Deutschen Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf

LG Ultralauf: Antje Krause und Felix Weber gewinnen die 24h-DM

LG Ultralauf: In der Sonne geglänzt, in der Nacht verglüht! (Link funktioniert aktuell leider nicht)

3 thoughts on “Der längste Tag meines Lebens”

  1. Hallo lieber Marko, ich bin zutiefst von dieser Leistung und vorallem des Durchhaltevermögens beeindruckt. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch zu dieser außergewöhnlichen Leistung und dem top Erfolg. Echt super..
    ??Ich bin übrigens die Kollegin deiner Mutter, Claudia…Kerstin hat uns das stolz erzählt und mir diesen Blog freundlicherweise geschickt. Auch sehr schön geschrieben.. LG von Claudia Berger

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